50 Jahre Siedlung „Im Broich / Auf dem Weihberg“, Oberembt, 18.09.2004
Psalm: | Ps.127 |
alttestamentl. Lesung: | Jeremia 29,4-7.11 |
Epistel: | Philipper 4,4-9 |
Evangelium: | Matthäus 7,24-29 |
Lieder: | 316 (1-5); 398 (1+2); 322,1-6; 331,1+9-11 |
ökumenischer Gottesdienst Pfr. Grashof, Pfr. Krenzel
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Liebe Festgemeinde!
„Wenn ich eine Gemeinde aufbauen will, muss ich dafür sorgen, dass die Leute ein vernünftiges Zuhause haben.“ Mit diesen Worten des Kirchhertener Pfarrers Kurt Georg Grundmann war die Richtung gewiesen für ein Vorhaben, auf dessen Realisierung wir heute, nach fünfzig Jahren, dankbar zurückschauen dürfen.
Wir vergegenwärtigen uns: Am 8. Mai 1945 kapitulierten die deutschen Streitkräfte. Das „Dritte Reich“ war zusammengebrochen. Es hinterließ ein Erbe des Schreckens: Viele europäische Städte waren zerstört. Fünfzig Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren – gefallen, verhungert, ermordet. Aber auch das Leid der Überlebenden war unbeschreiblich. Zu den Millionen, die Wohnung und Habe durch Bomben verloren hatten, gesellten sich weitere Millionen, die während der letzten Kriegsmonate vor dem heranrückenden Feind geflüchtet waren oder nach Kriegsende aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die weitaus meisten Vertriebenen waren Deutsche. Sie bezahlten nun die Rechnung für die Verbrechen, die im Namen ihres Volkes begangen worden waren.
So waren es vor allem Pommern, Schlesier, Ostpreußen, die, ohne viel Gepäck, dafür aber beladen mit teils traumatischen Erlebnissen im Westen dessen strandeten, was vom Deutschen Reich übrig geblieben war. Hier wurde man mehr schlecht als recht untergebracht, lebte und arbeitete für Hungerlohn auf den Bauernhöfen der Einheimischen. Auch sie waren Deutsche, aber ihre Sprache verstand man nicht, ihre Glaubenstradition teilte man nicht. Man war fremd und fühlte Heimweh. Doch der Lauf der Zeit ließ immer weniger Zweifel daran offen, dass eine Rückkehr in die Heimat ausgeschlossen war, weil es Pommern, Schlesien und Ostpreußen nicht mehr gab und nie mehr geben würde.
Auch für die einheimische Bevölkerung war es durchaus nicht leicht, mit der neuen Situation fertig zu werden. So mußte man in vielen Ortschaften erstmals ein Zusammenleben mit Menschen erproben, die nicht katholisch waren. Und die eingesessenen Protestanten, die es ja vereinzelt auch gab? Sie erlebten, dass sich ihre Gemeindegliederzahl schlagartig mehr als verzehnfachte. Doch die Neuankömmlinge hatten einen anderen Katechismus: nicht den Heidelberger, sondern den lutherischen. So ließen sie rein rechnerisch die Einheimischen zur konfessionellen Minderheit innerhalb ihrer eigenen Kirchengemeinde werden.
So galt es, ein schier undurchschaubares Knäuel von Ängsten und gegenseitigen Vorbehalten war zu entwirren. Wie sollte eine Integration dieser vielen aus ihrer Heimat entwurzelten Menschen gelingen? Es spricht für die Lebensklugheit eines Mannes wie Pfarrer Grundmann, dass er die Sache von der praktischen Seite anging. Menschen integrieren, das funktioniert nur, wenn sie eine Perspektive bekommen. Und das bedeutet auch: wer seine Heimat verloren hat, der braucht einen Ort, an dem er sich wenigstens zu Hause fühlen darf.
Ein eigenes Heim – für eine Vertriebenenfamilie unbezahlbar. Sicher – spätestens mit der Währungsreform konnten auch viele der Heimatvertriebenen den Melkschemel gegen eine Arbeitsplatz in der aufstrebenden Industrie eintauschen. Aber die meisten Familienväter hatten viele Kinder und wenig Geld in der Lohntüte.
Zielstrebig arbeitete Pfarrer Grundmann auf eine Lösung hin: So entstand 1952 zunächst in Kirchherten, dann ab 1954 auch in Oberembt eine Siedlung, wo Vertriebenenfamilien auf Kirchenland ein Grundstück in Erbpacht erhielten um sie mit viel kostensparender Eigenleistung mit einer bescheidenen Doppelhaushälfte zu bebauen. Während die Kirchhertener Siedlung nicht weit von der alten evangelischen Kirche errichtet wurde, baute man in Oberembt ein neues Gemeindehaus. Achtzehn Siedlerfamilien erhielten so ein geistliches Zentrum und eine vielseitige Begegnungsstätte.
Die Einzelheiten müssen hier nicht erzählt werden. Sie wissen darüber besser bescheid als ich. Und vieles ist in einer kleinen, aber sehr beachtenswerten Festschrift in Erinnerung gerufen, die ein fleißiges Team für Sie zum heutigen Tag zusammengestellt hat.
Wenn wir aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts auf die Gründungszeit dieser Siedlung hier in Oberembt zurückblicken, dann dürfen wir dies mit Freude im Herzen tun. Freude, darüber, dass hier Menschen ein Neuanfang ermöglicht wurde, die alles verloren hatten.
Auch Dankbarkeit ist angebracht. Dankbarkeit sicher gegenüber jenen Menschen, die gemeinsam mit Pfarrer Grundmann damals die Weichen stellten, um das Projekt zu realisieren. Aber Dankbarkeit auch gegenüber Gott, dessen Segen das Vorhaben gelingen ließ.
Dankbarkeit nicht nur dafür, dass nun seit 50 Jahren diese Häuser stehen und bereits von den Enkeln und Urenkeln ihrer Erbauer bewohnt werden. Sondern auch dafür, dass ein Stück Integration gelungen ist. Die Neubürger hatten „der Stadt Bestes gesucht“, wie Jeremia es ausdrücken würde, sie hatten sich im Alltag als fleißige, und verlässliche und darüber hinaus sogar als liebenswerte Mitmenschen erwiesen. Sie haben das einheimische Dorf- und Vereinswesen bereichert und sich im Gegenzug sogar den Gepflogenheiten der Eingeborenen geöffnet – wie zum Beispiel dem Karneval. Längst sind aus Fremden Freunde geworden, Nachbarn, selbst Ehepartner und Familien – auch über Konfessionsgrenzen hinweg. Und so hat sich gezeigt, dass der Herr nahe ist, wo Menschen auch über alle Schranken hinweg einander ihre Güte kundtun, wie der Apostel Paulus es formulieren würde, und so ihr gegenseitiges Mißtrauen überwinden.
Und unmerklich ist aus der Siedlung, die einst am Rande von Oberembt entstand, ein integraler Bestandteil des Dorfes geworden. Das zeigt sich rein äußerlich daran, daß der Dorfrand sich hier inzwischen weiter ausgedehnt hat, mithin die Siedlung in die Ortslage eingewachsen ist. Aber das zeigt sich eben auch daran, dass es spätestens in der dritten Generation nicht mehr möglich ist, die Herkunft der Bewohner an ihren Lebensgewohnheiten oder ihrem Zungenschlag abzulesen.
Ein Hoffnungszeichen für die Zukunft, möchte ich sagen! In einer heillos zerstrittenen Welt, die immer noch geprägt ist von Mißtrauen, Vorurteilen, Angst und Hass sind Beispiele bitter nötig, die zeigen: es geht doch! und zwar auch anders! Es ist möglich, dass Menschen nicht von ihrer Vergangenheit so gefesselt bleiben, dass sie erlittenes Unrecht mit neuem Unrecht vergelten müssen. Wenn sie in neuer Umgebung eine neue, eigene Perspektive erhalten. Und die hat vor allem mit ganz lebenspraktischen Dingen zu tun: Arbeit, Brot, Dach über dem Kopf.
Es geht, das Menschen, die einander fremd sind, aufgrund unterschiedlicher kultureller oder religiöser Prägung, einander nicht fortwährend massakrieren, sondern miteinander einträchtig im Festzelt schunkeln. Es geht, und Sie haben selbst erleben dürfen, dass uns Menschen ein Fundament des Zusammenlebens geschenkt ist, die überraschenderweise sogar breiter ist als unser eigener, manchmal leider etwas beschränkter menschlicher Horizont. Ich rede von dem Fundament, das Jesus meinte, wenn er seine Jünger aufforderte, ihr Haus nicht auf Sand, sondern auf felsigem Grund zu bauen. Damit meinte er seine eigenen Worte, in denen er zu einer besseren Gerechtigkeit aufforderte. Eine Gerechtigkeit, die nicht aufrechnet, nicht wiedervergilt, nicht zwischen Freud und Feind unterscheidet, sondern die gezielt Zeichen der Entfeindung zwischen Menschen setzt. Dieses Fundament, uns überliefert als die „Bergpredigt Jesu“, die große Charta der Menschlichkeit, wurde damals mit den Grundsteinen zu dieser Siedlung in die Erde gelegt. Ohne dieses Fundament stünde heute keines der neuen Häuser.
Ich glaube, dies ist das wichtigste Erbe, das wir auch an die nächste Generation weiterzugeben haben, die diese Häuser bewohnen wird. So werden diese Häuser Bestand haben als Zeichen des Friedens und der Hoffnung auf eine glückliche Zukunft.
Amen!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen uns Sinne in Christus Jesus. Amen